Digitalisierung als Gehilfe der Nachhaltigkeit
Interview mit Dr. Marius Grathwohl, Vice President Multivac
Null Produktivitätsfortschritt, keine Organisation, keine Standardisierung: Die deutsche Wirtschaft habe Digitalisierung und Industrie 4.0 verschlafen, so die Meinung einiger Experten und Medien. Doch das sei zu viel Pessimismus, zeigt sich Dr. Marius Grathwohl, Vice President Digital Products and Transformation beim Verpackungsspezialisten Multivac, im Interview überzeugt. Warum es Grund zur Hoffnung gibt.
Herr Dr. Grathwohl, hat die deutsche Industrie den Anschluss an die vierte industrielle Revolution tatsächlich verpasst?
Dr. Marius Grathwohl: Was die deutsche Wirtschaft bei der Digitalisierung in den letzten Jahren erreicht hat, lässt sich in meinen Augen nicht als Nullproduktivitätsfortschritt abtun. Es hat sich einiges getan. Die Wirtschaftsverbände Bitcom, VDMA und ZVEI bspw. haben die Plattform Industrie 4.0 gegründet und ausgebaut – eines der größten Industrie 4.0-Netzwerke weltweit, das mit zahlreichen Allianzen kooperiert, kleinen und mittleren Unternehmen praxisnahe Starthilfe bei den Themen Digitalisierung und Industrie 4.0 gibt. Laut Bitcom setzen mittlerweile 62% der Unternehmen in Deutschland Industrie-4.0-Anwendungen ein. Zudem hat die Plattform Impulse in den internationalen Diskurs gebracht. Das ist ein wichtiger Punkt. Eine starke Vision wie Industrie 4.0 braucht genügend Zeit. Wir sollten nicht erwarten, dass alle Akteure auf dem gleichen Stand sind und alles fertig ist. Und wir dürfen nicht die Geduld verlieren. Nicht nach nur zehn Jahren. Denken Sie an Amazon-Gründer Jeff Bezos, der in den 1980er-Jahren die Vision hatte, die Schwerindustrie in den Weltraum zu verlagern und die Erde damit in eine Art Nationalpark zu verwandeln.
Erst heute, vier Jahrzehnte später, entwickeln sich private Raumfahrtunternehmen, welche die Vision Wirklichkeit werden lassen könnten. Große Träume können ruhig Zeit in Anspruch nehmen. Und auf der Reise tut sich ja schon einiges. Bei Multivac haben wir 2017 angefangen, uns intensiv mit dem Thema Industrial Internet of Things zu beschäftigen. Seitdem haben wir und unsere Technologie-Zulieferer rasante Fortschritte gemacht. Die Vernetzung der Maschinen und die Infrastruktur sind beachtlich. Mittlerweile kommen sogar chinesische Experten auf unsere Messestände und fragen nach Industrie 4.0. Das ist doch ein gutes Zeichen. Es werden noch große Dinge auf uns zukommen.
Was ermöglicht die Digitalisierung der deutschen Industrie?
M. Gratwohl: Ich sehe die Digitalisierung als ein mächtiges Instrument zur Wirtschaftsförderung. Gerade dem Maschinenbau, das Steckenpferd der Deutschen, bietet die digitale Transformation die Chance, sich neu zu positionieren und zusätzliche Märkte zu erschließen. Ein Beispiel ist der Service. Hier werden sich die Geschäftsmodelle in den nächsten zehn Jahren wandeln – getrieben von Industrie 4.0 Technologie. Weg vom klassischen Ersatzteilgeschäft, hin zum proaktiven, kundenorientierten Service. Dank Digitalisierung, Vernetzung und Schlüsseltechnologien wie Big Data und Künstliche Intelligenz können Mitarbeiter den Live-Betrieb von Maschinen und Anlagen analysieren, den Durchsatz optimieren, Fehler schneller beheben und somit die Verfügbarkeit erhöhen. Services, die für Kunden bares Geld bedeuten und entsprechend attraktiv sind. Doch um Wirtschaftsförderung allein geht es nicht. Die Digitalisierung ist in meinen Augen auch ein Gehilfe der Nachhaltigkeit. So wird es dank der Vernetzung bspw. möglich, dass Maschinen und Anlagen Live-Messwerte zum Strom-, Druckluft- und Kühlmediumverbrauch bereitstellen, Kennzahlen, die Unternehmen unterstützen, Prozesse transparenter zu machen und Sparpotentiale zu erkennen.
Was muss in den nächsten Jahren passieren, um Fortschritte beim Thema Industrie 4.0 zu erzielen?
M. Gratwohl: Die deutschen Maschinenhersteller waren beim Thema Digitalisierung in den letzten Jahren fleißig. Die meisten haben ein eigenes Portfolio an digitalen Produkten und Smart Services entwickelt. Jetzt stellt sich die Frage: Wie bauen wir ein funktionierendes Ökosystem auf, wie schaffen wir Schnittstellen, damit die Technologien herstellerübergreifend zusammenarbeiten und für Anwender maximalen Mehrwert schaffen? Ich bin hier guter Dinge. Denn es gibt einige vielversprechende Ansätze, die Marktreife erlangt haben. Denken Sie nur an die Verwaltungsschale. Mit diesem branchenneutralen Standard wird es möglich, dass vernetzte Maschinen und Bauteile im Internet der Dinge miteinander kommunizieren. Somit ist eine weltweite Interoperabilität sichergestellt. Wichtig für ein Fortschritt beim Thema Digitalisierung ist aber nicht nur die Offenheit der Hersteller, sondern auch die der Anwender. Hier spielt die Datensicherheit eine große Rolle. Zum Glück haben immer weniger unserer Kunden Bedenken, wenn es etwa darum geht, Daten in die Cloud zu schicken. Es hat sich in letzter Zeit eine Art Grundvertrauen eingestellt – auch in Zusammenarbeit mit den etablierten Cloud-Providern wie Microsoft oder Amazon. Wir diskutieren heute weniger über Gefahren und mehr über Funktionen und Mehrwert.
Eine abschließende Frage: Was müsste die Politik tun, um Digitalisierung und Industrie 4.0 voranzutreiben?
M. Gratwohl: Industrie 4.0 hat nicht nur Bedeutung für das produzierende Gewerbe. Zu den Anwendungsfeldern zählen auch Mobilität, Gesundheit, Klima und Energie. Einen entsprechenden Fokus sollte die Politik auf das Thema legen. Und auf die Hemmnisse, mit denen sich Unternehmen herumschlagen. Dazu zählen etwa fehlende finanzielle Mittel und der Fachkräftemangel. Es wäre also wünschenswert, dass die Politik Unternehmen bei der Anwendung von Industrie-4.0-Applikationen finanziell stärker unterstützt, wie es in anderen europäischen Ländern der Fall ist. Aufmerksamkeit und Unterstützung verdienen in meinen Augen aber auch Initiativen wie die Open Industry 4.0 Alliance. Die Umsetzungsgemeinschaft spielt eine bedeutende Rolle, wenn es darum geht, für Industry 4.0 ein offenes Ökosystem mit maximaler Interoperabilität zu schaffen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Grathwohl!
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