Anlagenbau und Komponenten

Maximale Flexibilität für die Produktion

Dampfkesselanlagen von Bosch Thermotechnik zur Energieversorgung und Dekarbonisierung

18.10.2022 - LVT LEBENSMITTEL Industrie im Interview mit Daniel Gosse, Bosch Thermotechnik GmbH, über die Energie- und Anlagenoptionen rund um Prozesswärme und Prozessdampf.

Der Schutz des Klimas beherrschte das politische Handeln, national, in der EU und auf globaler Ebene, bevor Russlands Krieg in der Ukraine die Energie- und Rohstoffversorgung fundamental veränderte. Seitdem trat die Abhängigkeit u. a. der deutschen Industrie von russischem Erdgaslieferungen offen zu Tage. Am 23. Juni 2022 rief Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Alarmstufe des Notfallplans Gas aus. Unverändert hält die deutsche Klimaschutzpolitik an ihren Zielen fest und will bis 2030 die Treibhausgasemissionen um 65 % gegenüber dem Referenzjahr 1990 senken, bis 2040 soll diese Prozentzahl 88 % Senkung erreichen, um dann 2045 die Klimaneutralität zu erreichen.

LVT LEBENSMITTEL Industrie sprach mit Daniel Gosse, Global Head of Marketing and ­Academy, Bosch Industriekessel, über die Energie- und Anlagenoptionen rund um Prozesswärme und Prozessdampf für die Lebensmittel- und Getränke­industrie am Standort Gunzenhausen.

LVT LEBENSMITTEL Industrie: Herr Gosse, bis 2045 soll Deutschland klimaneutral werden. Wie weit ist Ihr eigener Standort im Werk Gunzenhausen auf dem Weg zur Klimaneutralität?

Daniel Gosse: Der Bosch-Gesamtkonzern ist seit 2020 klimaneutral und Mitglied im ­Climate Pledge. Im Scope 1 und 2 sind wir quasi klimaneutral. es sind aber Kompensationsmaßnahmen enthalten, so wie sie viele andere Unternehmen ebenfalls vornehmen. Über den Climate Pledge ist auch sichergestellt, dass nur vernünftige Maßnahmen wirksam werden und kein Greenwashing betrieben wird. Bis 2030 will Bosch jetzt auch Scope 3 angehen, d. h. Ziele zur Reduktion der Emissionen über die gesamte Wertschöüfungskette. Die Climate Pledge Teilnehmer haben sich die vollständige (echte) CO2-Neutralität bis 2040 zum Ziel gesetzt. Das ist für uns natürlich eine besondere Herausforderung, da unsere Produkte im Betrieb bei unseren Kunden viel Energie benötigen. Beispielsweise bei der Produktion von Lebensmitteln.
Hier am Standort haben wir, wie alle anderen Bosch-Standorte auch, intensive Aktivitäten. Wir nutzen Grünstrom und haben seit Jahren einen Grüngasvertrag. Darüber hinaus nutzen wir Solaranlagen auf allen Flächen, die das statisch zulassen. Auch in dem neuen Gebäude, das wir jetzt in Werk 2 für die Mitarbeiter bauen, wird dies umgesetzt. Wir testen E-Autos im Außendienst und im Service. Hier am Standort nutzen wir ein E-Auto und untersuchen gerade, wie praktikabel das mit zumutbaren Ladezeiten auch für die Mitarbeitenden in der Arbeitszeit ist. Ansonsten gibt es ein Nachhaltigkeitsteam, dass die Medien- und Massenströme, wie z. B. den Wasserbrauch und das Müllaufkommen optimiert. Für all diese Aktivitäten gibt Bosch Geld aus. Einen eigenen Elektrokessel würden wir auch gerne nutzen, das gibt aber die lokale Infrastruktur der Stadt nicht her. Die magelnde Verfügbarkeit von grüner Energie ist auch ein Thema, das sich nicht nur hier in Deutschland findet.

Welche Rolle kann der Elektrodampfkessel (ELSB, Electric Steam Boiler) spielen, um die europäischen Klimaschutzziele zu erreichen und welche Vorteile bringt er den Anwendern in der Lebensmittel- und Getränkeindustrie?

D. Gosse: Der ELSB ist dafür eine sehr schöne Lösung, da durch Grünstrom plötzlich gar kein Abgas mehr entsteht. In dem Kesselmodell, das Sie hier im Raum sehen, gibt es noch einen Abgasflansch, den gibt es beim ELSB nicht mehr. Und wenn man wirklich grünen Strom verwendet, was die meisten auch aus Kostengründen tun, gibt es dadurch keine CO2-Emissionen. Es gibt Beispiele, wo die Betreiber bei den Energieversorgern Überschüsse aus Windparks und Solarfeldern anfragen. Sie erhalten diese Stromüberschüsse dann zum verbilligten Tarif, müssen aber flexibel sein für dessen Abnahme. Das ist attraktiv wegen des großen Preisunterschieds, den es so früher beim Erdgas nicht gab. Das ist dann lukrativ für alle Beteiligten, denn dann müssen z. B. bei Stromüberschüssen aus der Windkraft keine Windräder mehr in den Stillstand geführt werden. Gleiches gilt für die Fotovoltaik.
Ansonsten ist es eine robuste Technik. Jeder von uns hat einen Wasserkocher zuhause. Letztlich ist die Grundlage eine ähnliche und Strom ist überall in Deutschland verfügbar. Wieviel Megawatt an welchem Anschluss – das ist dann noch die Frage. Der große Unterschied zu Wasserstoff, Biogas, Biomasse und mehr: Strom ist heut schon “überall“ und einen Stromanschluss gibt es bei jedem, anders als bei Wasserstoff, Biofuels etc.

 

Wie bewerten Sie die Zukunft von rein elektrischen Dampf- und Heißwassererzeugern in der Lebensmittel- und Getränkeindustrie?

D. Gosse: Das überlassen wir am liebsten unseren Kunden. Wir hatten Elektrodampfkessel ursprünglich als ein Leuchtturmprojekt aufgesetzt und dachten, dass wir zwei bis drei pro Jahr verkaufen. Wir werden im Moment aber von Anfragen überrollt in dreistelliger Höhe –wir produzieren in Summe ja nur einige hundert Anlagen im Jahr. Tatsächlich haben wir schon mehr als ein Dutzend der Kessel geliefert. Dem folgt meine Interpretation: Jeder ist im Moment glücklich, wenn er unabhängig von Erdgas oder überhaupt von fossilen Energieträgern ist. Das war schon vor dem Ukraine-Krieg so, jetzt hat sich die Situation noch einmal intensiviert. Jetzt sind Kunden da, die befürchten, dass die Anlage steht, dann steht die Fabrik und die Menschen müssen in Kurzarbeit geschickt werden. Diese Sorge treibt im Moment viele Verantwortliche um.

Aus welchen Regionen kommt derzeit die Nachfrage?

D. Gosse: Wir liefern im Moment in 140 Länder weltweit, mit wenigen Ausnahmen wie den USA, Japan und den Koreas. Elektrokessel und Hybrid­kessen lieferten wir schon nach Frankreich, Spanien, Ungarn, Serbien, in die Schweiz, nach Polen, Norwegen, Schweden, Island und weitere Länder. Entgegen unserer Erwartungen ist der durschnittliche Strompreis im Land nicht der ausschlaggebende Faktor.

Gibt es beispielhafte Pilotprojekte?

D. Gosse: Wir sind bereits über die Pilotphase hinaus. In Island war es ein Projekt für die Herstellung von Lebensmittelverpackungen, in Schweden war es die Produktion von Köttbullar. Standorte in Skandinavien profitieren vom hohen Grünstrom-Aufkommen aus Wasser- und Windkraft. Viele Kunden kommen aus dem Lebensmittel- und Getränkebereich, speziell in Frankreich, Schweden, Norwegen, Polen und Ungarn.
Auch an hybriden Lösungen für Strom und Verbrennung sehen wir immer mehr Interesse. Wir sind ehrlich gesagt sehr froh darüber, aber auch überrascht, wie groß die Nachfrage ist. Wir haben ursprünglich vermutet, dass der Strom für die Kunden zu teuer ist im Vergleich zu anderen Energieträgern. Gerade bei Molkereiprodukten wie z. B. der Herstellung von Milchpulver entfallen rund 14 % der Produktentstehungskosten auf Energie.

Wie flankiert der Bosch-Wasserstoffkessel den Weg zum Klimaschutz?

D. Gosse: Wir haben uns vor Jahren selbst die Frage gestellt, ob Kessel per se fossil sind und überhaupt eine Zukunft haben. Diese Frage muss man auch Mitarbeitern und Kollegen beantworten. Wir stellten fest, dass die meisten unserer Produkte – sowohl an Altanlagen als auch das aktuelle Portfolio – für die Umrüstung auf alternative Energien qualifiziert sind, sei es auf Wasserstoff, Biogas, Bioöl, Ethanol oder Grünstrom.
Nicht jede Anlage kann auf alle alternativen Energien umgestellt werden, aber es besteht grundsätzlich für jeden Kessel die Option, „grün“ zu werden und Wasserstoff ist eine davon. Dafür sind bestimmte technische Änderungen nötig, größere Änderungen als bei einer Umstellung auf Biogas. Aber Wasserstoff ist eine schöne Alternative, die Grünstrom in wirtschaftlicher Weise speicherbar macht und anders als bei Bioöl oder Biogas wird keine bzw. weniger Anbaufläche blockiert, die eigentlich Nahrungsmittel erzeugen könnte. Mit den Wasserstoffkesseln haben wir bisher (noch) weniger Projekte als mit den Elektrokesseln. Man sieht einfach, dass die Weichenstellungen in der Politik und in der Wirtschaft dafür noch nicht so lukrativ waren.

Welche Rolle kann grüner Wasserstoff für die Prozesswärme und den Prozessdampf in der Lebensmittelproduktion übernehmen?

D. Gosse: Ich sehe Wasserstoff als wesentliches Standbein einer zukünftigen Energielandschaft und priorisiert in der Industrie. So könnte in einem einzigen Betrieb mit Wasserstoff immense Mengen von Erdgas und CO2 kompensiert werden, die dem Verbrauch von vielen Tausend Haushalten in Deutschland entspricht. Das wäre der Turbo für die Energiewende.
Wasserstoff hat einen wesentlichen Vorteil gegenüber Grünstrom: Man kann ihn in großen Mengen wirtschaftlicher und nachhaltiger speichern, als mit aktuellen Stromspeichern. Das sichert die Verfügbarkeit auch bei der „Dunkelflaute“ und kann flexibel genutzt werden für Wärme, Mobilität und zur Verstromung, für letzteres bietet Bosch auch Brennstoffzellen an.
Den Vorteilen gegenüber stehen höhere Kosten für Anlagen und Erzeugung, Speicherung und circa 30 % Verluste bei der Elektrolyse. Daher ist für mich die Kombination aus Grünstrom mit Wasserstoff als Backup die zielführendste. Das Schöne ist, dass beim Verbrennen von Wasserstoff wieder Wasser entsteht, das durch Kondensation zurückgewonnen werden kann. So entsteht ein geschlossener Kreislauf im Sinne der Nachhaltigkeit.
Nach Einschätzung vieler Experten und auch nach meiner Überzeugung werden wir künftig einen Energiemix sehen, insbesondere auch im produzierenden Gewerbe, dort wo wir die großen Megawatt-Verbraucher sehen, teilweise auch Gigawatt-Verbraucher.

In einigen Projekten mit Wasserstoffkesseln dient Erdgas als Sekundärbrennstoff. Sind solche Konzeptionen bei der gegenwärtigen Versorgungslage mit Erdgas nicht schon überholt, da sie zu kostspielig und zu unsicher für die Betreiber aus der Lebensmittelproduktion sind?

D. Gosse: Im Moment ist die Versorgungslage an allen Gasanschlüssen in Deutschland unverändert gegeben. in puncto Versorgungssicherheit macht es auch Sinn, als Fabrik einen Plan B und gegebenenfalls auch Plan C zu haben. Bei vielen Betrieben würde die Produktion stillstehen, wenn der Kessel mangels Brennstoff den Dienst einstellt. Aktuell rüsten daher viele Betriebe auch auf Erdgas plus Öl um.
Wir haben auch schon mehrer Megawatt-Hybridkessel mit Wasserstoff und Grünstrom u.a. für Betriebe in Frankreich und Spanien erstellt. Manchmal zwingt die Volatilität der regenerativen Energieträger zu alternativen Handlungsoptionen für die Dunkelflaute, oder bei Schwankungen in der Biogasversorgung. Da kann es sinnvoll sein, einen Erdgaskessel als Backup in Reserve zu haben, das ist besser als die Lebensmittelproduktion stoppen zu müssen.

Wie lösen Bosch-Hybridkessel die Aufgaben der Lebensmittel- und Getränkeproduktion unter dem Blickwinkel von Klimaschutz und Nachhaltigkeit?

D. Gosse: Das bietet maximale Flexibilität und Versorgungssicherheit mit bis zu drei Brennstoffen plus Grünstrom: ein bisschen Biogas aus der eigenen Abfallwirtschaft, Grünstrom vom eigenen Dach und von dem Windrad nebenan. Das wäre dann echte CO2-Neutralität, anders als beim Verbrennen von Holz für das alternative Verwendungsmöglichkeiten mit weniger CO2-Emissionen bestehen, wie z. B. beim Hausbau. Auch Pellets sind mittlerweile sehr umstritten aufgrund ihrer Ökobilanz.
Man kann durch Mehrstofffeuerung zusätzlich zum Erdgas mit anderen Brennstoffen und Grünstrom dynamisch reagieren und den für sich günstigsten und klimaneutralsten Weg einschlagen. Solche Anlagen laufen mitunter über 60 Jahre und so ist der Kunde vorbereitet auf zukünftige Entwicklungen.

Ist das mit Blick auf die Flexibilität, ein Produkt, das bei kleinen und mittelständischen Unternehmen ankommt?

D. Gosse: Wir haben solche Produkte auch im kleineren Leistungsbereich geliefert, z. B. nach Frankreich zwei Kessel von 1,5 Megawatt, beide mit Wasserstoff und Grünstrom. In der Vergangenheit handelte es sich bei Wasserstoff-Kesseln meist um größere Hersteller z.B. von Medikamenten, bei denen Wasserstoff als Abfallprodukt anfällt und hilft den Erdgasbezug zu reduzieren.

Die Lebensmittelindustrie investiert umfangreich in Klimaschutz, Nachhaltigkeit und aktuell in eine Loslösung vom Energieträger Gas. Haben Sie Tipps zu aktiven Förderprogrammen, die diese Anstrengungen der Branche unterstützen und Ideen für mehr Unabhängigkeit von Erdgas als Energieträger?

D. Gosse: Definitiv: Als Erstes lohnt sich das Gespräch mit dem lokalen Energieversorger. Gibt es überschüssigen Grünstrom zu guten Konditionen? Auch kennt er ggf. lokale Förderprogramme. Aktuell gibt es auf Bundesebene noch Förderungen von bis zu 30–40 % Investitionszuschuss für das Thema Prozesswärme. Basis ist dabei die Menge Angespartem CO2. Ein Folgeprogramm für 2023 und die folgenden Jahre ist mir nicht bekannt.
Kurzfristig für diesen Winter bleiben nur wenige Alternativen zur Umstellung von bestehenden Megawatt-Verbrauchern auf eine Backup-Ölversorgung oder bei kleineren Betrieben auf Flüssiggas. Die Möglichkeiten zur Nutzung verschiedener Energieträger gibt Sicherheit und macht unabhängiger von Preisschwankungen und künftigen politischen Entscheidungen. Es ist eine Aufgabe der Politik die Zugänglichkeit zu alternativen Energieträgern für die Industrie zu schaffen, dazu gehören auch ausreichende Anschluss-Kapazitäten für grünen Strom. Dabei gilt es im Idealfall das Ganze auch noch lukrativ zu machen.
Da Kesselanlagen teilweise 60 Jahre und länger betrieben werden, macht es aus meiner Sicht Sinn umzurüsten und zu sagen: Ich flexibilisiere jetzt, ich habe jetzt zwei oder drei verschiedene Energieträger, die ich nutzen kann und bin damit sicher, dass die Fabrik nicht stillstehen muss, weil die Prozesswärme fehlt, gerade im Bereich Food und Beverage!

Vielen Dank für das interessante Gespräch und Ihre Tipps für unsere Leser, Herr Gosse.

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