Halal, lean, Industrie 4.0? Produktionsverantwortliche stellen sich neuen Herausforderungen
12. Fresenius Jahresauftakttreffen am 22. und 23. Januar 2019: Bericht von der Produktionsleiter-Tagung 2019 in Dortmund
Über 140 Teilnehmer waren der Einladung zum 12. Fresenius Jahresauftakttreffen am 22. und 23. Januar 2019 nach Dortmund gefolgt. Ob Anlagen und Umfeld, Sicherheit von Anlagen, Prozessen und Daten, Energiemanagement oder Führung und Prozesse: Hochkarätige Experten und Führungskräfte beleuchteten ein breites Themenspektrum und diskutierten mit den Tagungsteilnehmern die Fragen aus der Praxis. Die LVT-Redaktion besuchte die zweitägige Veranstaltung der Akademie Fresenius und berichtet hier darüber.
Moderatoren der Veranstaltung waren Dr. Jochen Brose (Dr. Brose Sachverständigenbüro) und Dr. Christoph Hollemann (Lean Partners Projekt Gesellschaft). Zu Beginn appellierte Jochen Brose an die Tagungsteilnehmer, die Pausen und die Abendveranstaltung ausgiebig zum gegenseitigen Austausch zu nutzen. Dies sei für den persönlichen Nutzen von der Veranstaltung mindestens ebenso wichtig, wie das eigentliche Vortragsprogramm, wenn nicht noch wichtiger.
Anlagen & Umfeld
Nach den organisatorischen Hinweisen zur Tagung von Ilka Müller (Die Akademie Fresenius) und Joche Brose startete der Themenblock „Anlagen & Umfeld“ mit dem Vortrag „Planungsgrundsätze zeitgemäßer Bauten für die Lebensmittelindustrie“. Michael Trautwein, geschäftsführender Gesellschafter bei Foodfab gab einen Einblick in eine Vielzahl realisierter Industriebauten. Der Referent brach eine Lanze für die Hygienedecke als begehbares Installationsgeschoss und die strikte Trennung unterschiedlicher Hygienereiche. „Wir sind Betriebsplaner und Bauplaner unter einem Dach“, sagte Michael Trautwein.
Hans-Werner Ahrens (Coppenrath & Wiese) gab einen Praxisbeicht zum „Anlaufmanagement komplexer Produktionslinien“. Zu Beginn zeigte Ahrens die Schattenrisse dreier ehemaliger Kollegen, welche die Bedeutung des Anlaufmanagements unterschätzt hätten und daher nicht mehr im Unternehmen seien. Ausreichend zu planen, sei das A und O und könne später nicht mehr korrigiert werden! Schließlich würden 70 % der Life Cycle Costs in der Planungsphase festgelegt. Ziel jeden Anlaufmanagements müsse der vertical start-up sein, der das angestrebte Leistungsniveau in kürzester Zeit erreiche. „Ich bin überzeugt, dass in der deutschen Lebensmittelindustrie jeden Tag Millionenverluste durch schlechte Planung entstehen“, führte der Referent aus.
„Halal im Produktionsbetrieb“ war das Thema der Präsentation von Norbert Kahmann (Symrise). Sie beleuchtete u. a. die Kriterien für die Auswahl eines geeigneten Zertifzierers. In der islamischen Welt bedeute „Halal“ linguistisch das „Zulässige, Erlaubte, Gestattete“, sein Gegenteil sei Haram. Halal sei das entscheidende Ernährungskriterium für etwa 1,7 Mrd. Menschen weltweit.
Der Vortrag von Dr. Markus Keller vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA beschäftigte sich mit „hygienic Design“. Eine wesentliche Herausforderung für die Hygiene in den Prozessen käme aus der arbeitsteiligen Organisation unterschiedlichster Mikroorganismen in Schleim- und Chemikalienproduzenten, wie sie sich in Biofilmen manifestiere. Um „Bactus und seine Kumpels“ wirkungsvoll in Schach zu halten, helfe hygienic Design, das konsequent Fugen, Schlitze und raue Oberflächen vermeide. Hygienerisiken verursachten auch Schrauben im Produktionsbereich durch metallische Kontaktflächen, Spalte, Toträume und Vertiefungen. Obligat nach EHEDG sei die Verwendung von Hutschrauben mit Sechskant und rundem Kragen und bündig abschließenden Elastomer-Dichtungen. Abschließend im Themenblock Anlagen und Umfeld gab Ralf Diekmann, Leiter Konstruktion und Verpackungstechnik bei August Storck, einen Praxisbericht. Er beschrieb hygienic Design-Anforderungen an das Maschinendesign aus der Sicht eines Süßwarenherstellers.
Sichere Anlagen, Prozesse und Daten
„Smart Future im Maschinen- und Anlagenbau: Handlungsfelder Industrie“ war das Thema der Präsentation von Michael Przytulla vom VDMA Fachverband Nahrungsmittelmaschinen und Verpackungsmaschinen. Der Referent bot dem Auditorium ein umfangreiches Quellenrepertoire zu Industrie 4.0-Fragen. So empfahl er u. a. den „Leitfaden Industrie 4.0 für den Mittelstand“, welcher in Kooperation mit vier Pilotunternehmen, mit der TU Darmstadt und mit dem Institut für Produktionstechnik des Karlsruher Instituts für Technologie entstanden sei. Der Leitfaden biete einen Werkzeugkasten für die passgenaue Umsetzung und für Geschäftsmodelle, Schulungen und die Beratung von Unternehmen.
Im Anschluss gab Gernut van Laak (ABB Automation Products) einen Überblick zum Thema „Holistic Plant Assessments als Grundlage zur Fabrikoptimierung“. Auf ihn folgte ein Praxisbericht von Jörg Schmitt zur verbesserten Instandhaltung bei Nestlé Deutschland.
Zum Thema „Machine Learning dank digitalen Zwillingen“ sprachen Philippe Ramseier und Thomas Frei von der Autexis Control. Nach der Einschätzung von Philippe Ramseier nehme die Komplexität und die Geschwindigkeit der Veränderungsprozesse immer mehr zu. Und genau aus diesem Grunde werde der Mensch noch lange im Mittelpunkt stehen. Im Sinne kundenspezifischer Produkte gelte es, die Flexibilität zu erhöhen. Marktgerechte Preise seien nur durch Effizienzsteigerungen zu halten. In Zukunft würden neue Geschäftsmodelle Lieferanten unternehmensübergreifend mit den Endkunden vernetzen. Machine Learning werde künftig einen großen Einfluss auf die Prozesseffizienz haben, so Ramseier.
Energiemanagement
Den Themenblock Energiemanagement eröffnete am 23. Januar der Praxisbericht von Andre Mombauer (DMK) zum Thema „Demand Side Management in der Produktion“. Durch die erneuerbaren Energien sei die Stromversorgung nicht mehr steuerbar, so der Referent. Dabei definierte Andre Mombauer „Demand Side Management“ als ein Konzept zur Laststeuerung um die Stromnachfrage zu flexibilisieren und Kosten zu senken. Damit käme es zum so genannten „Peak-Shaving“, der allgemeinen Reduktion von Lastspitzen, und zu atypischer Netznutzung. Beispielhaft errechne sich die Einsparung durch Lastspitzenkappung von ca. 80 kW im Schleswig-Holstein Netz bei einem Leistungspreis von 122,12 €/kW*a zu 10.000 €/a. Atypische Netznutzung könne im Dezember bis Februar im Hochlast-Zeitfenster von 16:00 – 19:30 Uhr Kosteneinsparungen von 40.000 – 60.000 €/a erbringen. Laut einer Studie des BMWi haben sich die Netzentgelte zwischen 2011 und 2018 um 73 % erhöht. Bis 2030 rechne man mit einer weiteren Erhöhung um 63 %.
Im Anschluss daran gab Matthias Ebinger, (Energie Consulting) eine Präsentation zum Thema „Aktuelles zu Zertifizierungen von Energiemanagementsystemen“, insbesondere zur Novellierung der ISO 50001. Die Umstellung auf ISO 50001:2018 sei mit dem 20.2.2020 relativ schnell zu bewerkstelligen! Dabei müssen fortlaufende Verbesserungen nachgewiesen werden. Das beträfe z. B. im PDCA-Zyklus neuerdings Maßnahmen zum Umgang mit Chancen und Risiken und die Planung einer energiebezogenen Datensammlung.
Führung und Prozesse
„Lean Management in der Lebensmittelindustrie: Der aktuelle Stand und mögliche Perspektiven für effizientere Prozesse“ war das Vortragsthema von Prof. Dr. Frank Balsliemke (Hochschule Osnabrück). Insgesamt ziele Lean Management auf das Schaffen von Werten, ohne Verschwendung. Kaizen sei die Philosophie dahinter mit dem Bemühen, jeden Tag in kleinen Schritten etwas besser zu werden. Dabei nahm der Referent die Führungskräfte in die Pflicht mit den Worten: „Die Methode allein macht es nicht. Es gilt, die Mitarbeiter mitzunehmen!“
Man könne beim Lean-Gedanken auch nicht bei Lean Production stehen bleiben, vielmehr gelte es, ihn auf die Administrationen und damit auf das Büro anzuwenden. Mit Blick auf Industrie 4.0 fragte der Referent sein Publikum: „Wer hält Vorträge zu Industrie 4.0? Es sind diejenigen, die es verkaufen wollen! So viele Vorträge von Leuten, die das erfolgreich anwenden, habe ich noch nicht gehört.“
Zur Lebensmittelindustrie selbst kommentierte Frank Balsliemke: Es gebe kaum eine Branche, in welcher der Zielkonflikt zwischen Technik und Produktion so intensiv gelebt werde. Das Qualifikationsniveau in der Produktion müsse steigen und damit auch die Bezahlung. Das ganze Thema „Lean“ könne nur mit den Mitarbeitern gelingen. Die Software löse das Problem nicht, sondern der Mensch, der sie bediene.
Lukas Lehmeyer (Apetito Convenience) gab im Anschluss daran seinen Praxisbericht zum Thema „Lean Management mit kleinen Mitteln? Möglichkeiten zur Nutzung einfacher Hilfsmittel“. Weitere Referenten im Themenblock Führung und Prozesse waren Dr. Jörg Herbers, (Inform) und Josef Wolf (PTA Praxis für teamorientierte Arbeitsgestaltung).
Den Abschluss der Produktionsleiter-Tagung 2019 in Dortmund bildete der Praxisbericht von Matthias Schielmann (Harry-Brot). Der Werksleiter des Standortes Schenefeld sprach über die „Führungskräfte- und Teamentwicklung in einem Werk von Harry Brot“. Matthias Schielmann gab neben Einblicken zu den durchgeführten Mitarbeiterentwicklungsprogrammen umfangreiche Literatur-Impulse zur Weiterbeschäftigung mit dem Thema Führung im betrieblichen Alltag. „Nichts ändert sich, bis du dich selbst änderst, und dann ändert sich alles“, so sein Zitat zum Abschluss seines Vortrags, entnommen dem Buch von Bodo Janssen und Anselm Grün „Stark in stürmischen Zeiten: Die Kunst sich selbst und andere zu führen“.
Fazit
Wie bewältigen Verantwortliche in der Lebensmittelproduktion immer dynamischere Entwicklungen steigender Komplexität, wie den Dschungel globaler Lieferketten und behördlicher Regularien? Wie kann der Mensch im Spannungsfeld von Verantwortung, Maschinen und Algorithmen das beherrschende Element der künftigen Entwicklungen bleiben? Sicher erscheint dazu: Damit dies überhaupt so kommen kann, bleiben Qualifizierung und lebenslanges Lernen mit die wichtigsten Tugenden – nicht zuletzt auch bei den sogenannten „Soft Skills“. Nur wenn es gelingt, die Menschen mitzunehmen und abzuholen, werden Teams und Organisationen robuster, gesünder und damit auch nachhaltiger.
Erneut ist dem Team der Akademie Fresenius ein inspirierendes Jahresauftakttreffen in Dortmund gelungen! Auf die Folgeveranstaltung vom 22.–23. Januar 2020 in Dortmund darf man gespannt sein.
Aus der Praxis für die Praxis
Die Besucher der Produktionsleiter-Tagung 2019 in Dortmund zeigten sich von der praktischen Ausrichtung der Themenauswahl überzeugt. Das belegten schon die Gespräche während der Tagung. Einzelne Teilnehmer wurden nach der Veranstaltung von LVT LEBENSMITTEL Industrie um ein schriftliches Statement gebeten, das die LVT-Redaktion hier publiziert:
Christian Kamrad, stellvertretender Werksleiter bei Sunval Nahrungsmittel, antwortete LVT: „Die Veranstaltung war sehr informativ und die abwechslungsreichen Themen wurden von den einzelnen Referenten praxisnah und aus erster Hand präsentiert. Besonders hervorzuheben ist die offene Art der Teilnehmer im Austausch untereinander. Die gute Organisation durch den Veranstalter und die Rahmenbedingungen der Tagungsstätte bekräftigen den positiven Gesamteindruck. Für mich eine rundum gelungene Veranstaltung, welche ich im nächsten Jahr wieder besuchen werde.“
Martina Pfeiffer war aus der Schweiz angereist. Die Leiterin Produktion bei Rivella formulierte ihr Fazit wie folgt: „Die Produktionsleitertagung hat mich mit dem sehr aktuellen Themenmix über Technik, Digitalisierung, Energiemanagement, Lean Management und Führung überzeugt. Theorie und Praxisberichte gaben wertvolle Inputs, ergänzt durch den Austausch mit den Kollegen.“
Ansgar Rinklake, Market Manager Food bei Air Liquide Deutschland schrieb LVT: „Fachlich hochwertige Veranstaltung, mit Vorträgen aus der Praxis für die Praxis. Auch der branchenübergreifende Austausch mit den Kollegen ist sehr wertvoll. Immer wieder eine gute Gelegenheit, seinen Horizont zu erweitern und sein Netzwerk auszubauen.“